Wir entschieden uns bei der Besteigung für die Marangu-Route, die am gleichnamigen Gate startete. 5 Tage Aufstieg und 2 Tage Abstieg waren geplant. Die ersten Tage verliefen sehr entspannt. Unsere Crew (Guides und Sherpas) war sehr angenehm und gut organisiert. Logistik und Verpflegung waren perfekt, es fehlte uns an nichts. „Pole-Pole“ – langsam-langsam sagten unsere Guides immer wieder.
So wanderten wir vor uns hin, genossen die Natur und die Landschaften mit ihren verschiedenen Vegetationen. Im Regenwald am ersten Tag konnten wir noch nichts vom Gipfel sehen – Nebel versperrte uns die Sicht. Aber am Morgen des 2. Tages, als ich das Zelt verlies, konnte ich einen wunderschönen Blick in den glasklaren Himmel werfen.
.. und da lag er vor mir – der „Kibo-Hut“, der Gipfel des Kilimandscharo. Immer noch ein ganzes Stück entfernt aber doch irgendwie nah. Magisch zog er mich an und ich spürte, wie diese Anziehungskraft meinen Körper, meine Selle und meinen Geist belebte.
Im Laufe des Aufstiegs und Tag um Tag wurde meine Verbindung zum Kibo immer intensiver. Ein meditativer und energetischer Zustand erhielt sukzessive Einzug in mich. Ich erfuhr meinen beseelten Leib, fühlte mich lebendig, kraftvoll, mutig und hatte ein klares Ziel vor Augen: den Gipfel zu besteigen. Die Tage verliefen wie eine einzige Dauer-Trance – der normale Alltag bzw. das normale Alltagsbewusstsein waren nicht existent bzw. präsent. Ich genoss diesen Zustand sehr, denn ich erfahre mich in einem solch achtsamen und bewussten Erleben über einen längeren Zeitraum eher selten.
Ich fühle also bin Ich
Schon länger verspürte ich die innere Ahnung, dass Achtsamkeit und das Präsent-sein im Hier-und-Jetzt ein für mich wesentliches und leibhaftiges Entwicklungsfeld sind. Vermutlich wirkte diese Erfahrung am Kili sehr unterstützend dafür, denn ich konnte sehr intensive Kostenproben dieses Zustandes erfahren, was wiederum neue Suchprozesse und Handlungen auslöste.
Der Weg zum Base Camp war lange und stetig ansteigend. Das Atmen fiel mir zunehmend schwerer und ich realisierte, dass wir langsam eine Region erreicht hatten, die anders war als die vorher erlebten.
Direkt nach dem Abendessen legten wir uns schlafen. Bzw. ich versuchte es, was mir kaum gelang. Einerseits bedingt durch eine gute Portion Aufregung und Vorfreude auf die Gipfelbesteigung; anderseits schlug mein Herz aufgrund des geringen Sauerstoffanteils in der Luft so schnell, dass sich die Schwingung in die Luftmatratze übertrug und ich die ganze Zeit mein Herz rasen hörte. Um 23:30 ging es los – die Gipfel-Nacht. Selten hatte ich einen klareren Fokus. Ich ging die ganze Zeit voran und lebte weiter meine Rollen als Motivator, Vortänzer und Vorsinger. „Jambo, Jambo bwana, Habari gani, Mzuri sana…”
Zwei unserer Wegbegleiter hatten zu diesem Zeitpunkt bereits permanente Würge- und Brech-Attacken und ich wollte sie so gut es ging bei Laune und Fokus halten. Die Luft wurde immer dünner und irgendwann realisierte ich, dass jetzt der Moment gekommen war, ab dem jeder für sich einzeln kämpft.
Bei 5.300 – 5.400 Metern lief es bei mir – der Umgebung entsprechend – noch ganz rund. Die -12° waren okay – mir war heiß und ich schwitzte stark. Bei ca. 5.500 Metern kam dann der „Gong“.
Innerhalb weniger Minuten verfloss meine Energie und ich erlebte mich dis-connected:
Körper und Geist waren irgendwie getrennt. Mein Ich-Bewusstsein erlebte sich in der Adler-Perspektive – im Draufblick von oben sah ich, wie der Körper sich Schritt für Schritt hinauf quälte. Eine kurze Kletter-Passage vor dem Gilman’s Point auf knapp 5.700 Metern gab mir dann den Rest. Am Gilman’s Point streckte es mich nieder und ich konnte keine Körperflüssigkeiten mehr bei mir halten. Ein eisiger Wind pfiff uns um die Ohren und es wurde schnell eiskalt.
Was war das für ein seltsamer Cocktail aus Leere und Ambivalenz. Auf der einen Seite wollte ich mich einfach nur hinlegen und schlafen, auf der anderen Seite wollte ich nicht aufgeben. Parallel führten verschiedene Stimmen Dialog in meinem Kopf: „geh weiter – der Gipfelrand ist schon geschafft“, „hör auf, das hier ist klar die Grenze“, „du brauchst nur ein bisschen Ruhe und Luft, das geht gleich wieder“…
Ein paar Minuten fühlten sich ewig an und ich konnte keinen klaren Entschluss fassen.
An dem Punkt war Michelle die einzige von uns, mit klarem Verstand und in einem körperlich ganz guten Zustand. Sie traf letztendlich die Entscheidung, dass wir als gesamte Gruppe wieder absteigen. Ich war in diesem Moment froh, dass mir jemand die Entscheidung abnahm und mich aus meiner Ambivalenz befreite.
Ich bin dankbar und ziehe meinen Hut davor, dass Michelle so viel Vernunft hatte und ihren eigenen Traum für die Gesundheit von uns anderen aufgab. Danke Michelle!
Und ich bin dankbar für die Erfahrung, so an meinen Grenz-Anschlag gekommen zu sein. Die Erfahrung auf dem Gipfel war kein Gefühl von Todesangst, aber doch ein sehr intensives von Begrenztheit und Endlichkeit.
Obwohl ich das gesteckte Ziel nicht ganz erreicht habe, fühlt sich diese Erfahrung durchweg positiv an. Kein Anteil „brabbelt“ mich mit „du hast das nicht geschafft“ oder ähnlichem voll.
Und genau dieser Zustand ist meine wesentliche Lernerfahrung.
Es gab viele Jahre, in denen mich dominierende Anteile angetrieben haben, um meine Ziele zu erreichen. Das Muster aus alten Zeiten war, immer wieder bis hoch in den roten Bereich zu drehen und auch einige Zeit darin zu verweilen, bis die gesteckten Ziele erreicht waren. Wenn es sein musste, habe ich mich dafür auch richtig gequält. Danach ging es direkt weiter zum nächsten Ziel… Ohne Erntedankfest und Wertschätzung für das Geleistete.
Ich habe an diesen Mustern und Antreibern in den letzten Jahren sehr intensiv gearbeitet und sie mittlerweile ganz gut kultiviert. Das Erfahren von Begrenztheit und Endlichkeit ist ein wichtiges Puzzle-Stück dabei gewesen.
Im unserer Gruppe haben wir uns die Silbermedaille für das Erreichen des Gilman’s Point „verliehen“.
Im Kontext meiner Lernerfahrung schimmert meine aber auch irgendwie GOLDEN…
Ich verliere nie - Ich gewinne oder Ich lerne